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Schattenrisse –
Eine Seelenreise

Gundula Schulze Eldowy

Die Serie Schattenrisse (2010–18) ist das künstlerische Debüt der Fotografin Kathrin Karras (Jahrgang 1967). Gleich der erste Auftakt ist ein Paukenschlag. Sich auf sich selbst berufend, entwickelte die Fotografin eine ungewöhnlich ergreifende Bildsprache, die sich einzig am Erlebten orientiert. Das Erlebte bezieht sich weniger auf die Außen- als viel mehr auf die Innenwelt.

Die Formulierung »er lebt« ist als Synonym von Erlebnissen zu betrachten, die durch jemandem hindurch gegangen sind. Kathrin Karras’ Fotografien ergreifen deshalb den Betrachter, weil er spürt, dass die Situationen, die sie beschreibt, von ihr selbst erlebt worden sind. »Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen, die ich auf meinen Bildern darstelle, aus mir selbst heraus kamen, dass sie sich um mich scharrten und mich zu diesen Bildern inspirierten«, sagt sie.

Wie im Trance sei sie sich bei der Entstehung vorgekommen. Das macht die Bilder lebendig und intensiv. Intensität ist in der Kunst selten. Die Figuren ihrer Bilder sind alten Familienfotos oder Filmen entlehnt. Sie löst sie in ihrem ursprünglichen Kontext auf und gestaltet sie zu Neuem. Die Eigenschaft der Fotografie, Leben festzuhalten und einzufrieren, bedeutet auch, eine Seele im abgebildeten Zustand gefangen zu halten.

Kathrin Karras entwickelt sich in diesem Prozeß zu einer Art Magierin, die die Festgehaltenen aus der Starre befreit. Die Umwandlung grenzt an ein Ritual, indem sie eine energetische Bildsprache wählt, die an Malerei und Poesie grenzt. Die Stärke der Kunst, aus unbekannten Zonen des Bewusstseins Dinge ans Tageslicht zu holen, macht sich Kathrin Karras virtuos zu nutze. Denn das Tagesbewusstsein macht nur fünf Prozent menschlicher Gehirnkapazität aus, weshalb es wegen seiner Begrenzung viele Ebenen nicht wahrnimmt.

Den Figuren fügt sie Flächen, Strukturen, Lichter, Schatten und andere Gebilde hinzu, »malt« durch Verzerren, Vermischen, Überlagern, Weglassen, Unschärfen, Spiegellungen, Umkehrungen und Zusammensetzen vieler Fragmente, die sie zum größten Teil bereits in der Kamera vornimmt. »Ich arbeite mehrschichtig, überlagere, zerstöre Bildflächen, verfremde sie, füge Aufnahmen hinzu und fotografiere dasselbe neu. Die Bilder entstehen assoziativ und sind nicht wiederholbar.«

Ein Frauenreigen findet sich im Kristallwald wieder … ein Loch in der Wand, das wie ein Saugnapf wirkt, erscheint neben einem leerstehenden Bett, in welchem eben noch jemand, gelegen zu haben schien, der unfreiwillig in dieses Loch »gezogen« wurde. Vor der Ruine eines verlassenen Schlosses ist ein See, in welchem sich Gesichter ehemaliger Bewohner spiegeln. Durch ein Hochzeitspaar geht eine hauchdünne Trennlinie. Der Mann tritt durch einen Spiegel an die Seite seiner Frau. Feuerzungen begleiten seine Erscheinung … Im Schein des Vollmondes, der sich verdoppelt, tritt ein langhaariges, blondes Mädchen mit Hund … Der Frau auf einem weißen Pferd geht ein Kind voraus, welches beide führt.

Es sind zuweilen archetypische Situationen menschlicher Psyche, die eine Bildmetapher finden. Anfänglich stellten die Fotografien der Serie Schattenrisse noch einen Abstieg in die Unterwelt dar, in die Unterwelt der Fotografin. Eine junge Frau, die mit entsetztem Gesicht vor etwas flieht, das im Bild nicht zu sehen ist, steigt die Treppe in einem Haus empor. Das Bild eines zähnefletschenden Graf Dracula’s an der Wand des Treppenabsatzes läßt ahnen, was auf sie zukommen wird … Dämonen mit großen Augenhöhlen warten auf ein Opfer, um seine Energien auszusaugen … Die Kutsche mit zwei zylindergeschmückten Herren fährt in einen See hinein … »Wer in den Abgrund schaut, braucht Mut« sagte der irische Dichter Yeats. Kathrin Karras hatte den Mut.

Wie bei Dantes Göttlicher Komödie, in welcher der Dichter in Begleitung Vergils sich die Hölle anschaute, steigt die Fotografin in ihren eigenen Abgrund und folgt darin einer im Altertum weit verbreiteten Seelenreise in die Unterwelt, die bereits Gilgamesh antrat. Gemeint sind nicht reale Gestalten, sondern herumgeisternde Größen des Unterbewusstseins, die nach Erlösung schreien. Wer nicht tief fällt, kann sich auch nicht hoch erheben. Wer zum Licht will, muss zum Schatten.

Schattenrisse ist ein Heilungsprozess, der durch Erkennen und Akzeptieren der Schattengestalten den Weg der menschlichen Seele zum Kosmos zeigt.

© Gundula Schulze Eldowy 2018